ZIZERLWEIS
Vom Einsickern Österreichs in einen Münchner Geist

23. Dezember 2023


Mein Kaffeehaus


Wenn sich da draußen jemand vorbereitet, nach Österreich und dort dann genauer nach Wien auszuwandern, so sollte er, das ist eine dringende Empfehlung, zügig den Herrn Torberg lesen. Seine beiden Bücher „Die Tante Jolesch“ und „Die Erben der Tante Jolesch“ sind eine Art Gebrauchsanweisung für Österreich im allgemeinen und für Wien im besonderen.

Natürlich muss man dabei bedenken: So ganz aktuell ist das alles nicht, was in den beiden Büchern steht. Immerhin sind beide Werke älter als ich, „Die Tante Jolesch“ erschien 1975, die Erben folgten dann drei Jahre später. Noch dazu behandeln sie beide beim Erscheinen schon längst entschwundene Zeiten; in der Nebensache die gute, alte Zeit des k.u.k.-Reiches, in der Hauptsache die intellektuelle Welt der ersten Republik, was die österreichische Zwischenkriegszeit ist.
Die Tante Jolesch
Und weil sie die intellektuelle Welt jener Zeit behandeln, handeln sie von einer leider, leider für immer verlorenen Welt. Jene Welt war noch geprägt vom Echo der k.u.k.-Monarchie. In jener Zeit war es noch selbstverständlich, als Österreicher Prag, Brünn und Budapest für nahegelegene Schwestern Wiens zu sehen. Dieses Selbstverständnis beendete dann der Eiserne Vorhang, hinter dem die drei kleinen Schwestern für Jahrzehnte verschwanden. In jener Zeit war es aber auch noch selbstverständlich, Wien als eine sehr jüdische Stadt zu sehen – so waren denn auch ziemlich viele der Protagonisten beider Bücher und der Autor selbst Juden. Dieses Selbstverständnis endete bekanntlich sehr abrupt 1938 mit dem Anschluss und der anschließenden Vernichtung allen jüdischen Lebens in Wien, wie in ganz Österreich.

„Die Tante Jolesch“ und ihre Erben handeln also von einer Welt von Gestern – noch so eine Gebrauchsanweisung für Österreich; nur, dass Stefan Zweigs Werk inzwischen „Die Welt von Vorgestern“ heißen müsste. Doch trotz dieser weder vom Autor, noch vom Werk verschuldeten Schwächen ist „Die Tante Jolesch“ zusammen mit ihren Erben noch immer ein guter Zugang zum österreichischen Wesen – ich habe es selbst getestet. Denn mir wurden beide Bücher noch vor meinem Umzug hierher geschenkt und ich las sie mit Gewinn.

Das liegt schon allein daran, dass ziemlich viele Österreicher zumindest „Die Tante Jolesch“ kennen – und kennen sie sie nicht, dann kennen sie wenigstens viele der Bonmots, die ihr entlaufen sind. Ich hatte einen Kollegen noch in München, der ist von der Mutter her halber Österreicher, er kennt auch von der Mutter her „Die Tante Jolesch“. Die namensgebende Tante wird in dem Buch mit der Weisheit zitiert: „Was an einem Mann schöner ist als ein Aff‘, ist ein Luxus.“ Nun hatten wir eine Kollegin, die kam eines Tages endlich mit einem Freund an ihrer Seite daher; ich hatte das zweifelhafte Glück, ihn gleich bei erster Gelegenheit kennenzulernen, der Kollege aber nicht. Also fragte er mich, wie der Typ denn so sei, und ich konnte sein Verstehen voraussetzen, als ich antwortete: „Sagen wir mal so: Viel Luxus ist da nicht.“
Letztens stand ich, wie jeden Sonntagmorgen, beim Bäcker, vor mir eine Dame mit großer Bestellung, so groß, dass das halbe Bundesheer davon satt würde – und so groß, dass Bestellung, Bedienung und Verstauen eine lange Weile dauerten. Ich bestellte direkt nach ihr zwei Stück Gebäck. Darauf die Dame, noch immer beim Verstauen, in entschuldigendem Tonfall: „Na, das hättens aber auch früher sagen können.“ – „Kein Problem, ich hab Zeit.“ Darauf wieder sie „Die Tante Jolesch“ frei zitierend: „Wir sind ja nicht auf der Flucht.“

Die wackere Tante ist somit schon fast eine Art Integrationskurs für deutschsprachige Zuwanderer – ein jeder, der es mir gleichtun möchte und in den Nordwestbalkan ziehen will, der sollte sie lesen – unbedingt! Steigt man aber tiefer ein in die Lektüre, dann geht es hier wesentlich immer um ein einziges Thema: Das Kaffeehaus. So zumindest schreibt es auch der Herr Torberg selbst: „Im Grunde ist ja dieses ganze Buch ein Buch vom Kaffeehaus. Kaum eine der auftretenden Personen wäre ohne das Kaffeehaus denkbar. […] Für [sie] war es der Nährboden, aus dem sie ihre geheimen Lebenssäfte sogen.“

Ich gebe zu, die Kaffeehauskultur in Wien, die hat mich aus der Ferne schon fasziniert, auf die habe ich hin gefiebert, lange bevor ich sie dann selbst erleben durfte. Natürlich ist sie, das sei an dieser Stelle einmal ausdrücklich gesagt, damit niemand falsche Erwartungen nach Wien trägt, längst nicht mehr so lebendig, wie sie es in Torbergs Anekdoten war – die Gründe hierfür stehen weiter oben im Text. Aber tot ist sie zum Glück halt auch noch nicht, die Kaffeehauskultur. Und ich liebe sie! Selbst in ihren kümmerlichen Resten.
Volles Café
Dabei mache ich einiges falsch: Ich versuche z.B. seit meinem Übersiedeln nach Wien, in dem von mir gewählten Kaffeehaus ein Stammgast zu werden. Und anscheinend habe ich das sogar geschafft: Während ich diese Zeilen schreibe, genieße ich ein Bier auf Kosten des Hauses, das mir ausgegeben wurde als Entschädigung dafür, dass ich in den letzten Wochen wegen des vermaledeiten Weihnachtsmarkts am Spittelberg, der bis hierher zu meinem Café ausstrahlt, öfter mal keinen Platz bekommen habe oder zumindest warten musste. Doch laut Torberg zeichnete sich der gute Stammgast gerade dadurch aus, KEIN Stammgast sein zu wollen. Das ist, nebenbei, ein schönes Beispiel für die österreichische Inkonsequenz, die wirklich mal einen eigenen Beitrag wert wäre.

Ich trinke auch selten Kaffee und meistens Bier – da gewinnt noch immer der Bayer gegen den Neu-Wiener. Dazu liegt mein Kaffeehaus zwar standesgemäß im ersten Bezirk, da aber ganz am Rande – die Cafés, die Torberg besuchte, von denen er schreibt, lagen und liegen alle deutlich zentraler. Allerdings: Als Torberg in seinen Kaffeehäusern verkehrte, selbst als er lange danach darüber geschrieben hat, da kamen noch nicht an die 15 Millionen Touristen pro Jahr nach Wien, die gefühlt alle im „Central“ einen Kaffee trinken wollen. Die die Innenstadt zu einfach jeder Jahreszeit zu einem Freilichtmuseum degradieren. Die mich deshalb dazu zwingen, mein Café woanders zu suchen.
Café Central
Es gäbe da das „Eiles“, das gerade so nicht im ersten, sondern im achten Wiener Gemeindebezirk steht. Dort bin ich auch des Öfteren, garantiert immer dann, wenn in der Welt etwas Gravierendes geschehen ist. Denn dort gibt es alles an Zeitungen, das ich nur lesen können wollte: FAZ, Süddeutsche, Zeit, NZZ, Presse, Kurier, Standard, New York Times und, so ich mal masochistisch drauf bin, auch die Welt. Das „Eiles“ war in der ersten Hälfte der 1930er das Stammcafé der österreichischen Nazis (als die noch verboten waren). Laut Torberg scheiterte hier der Putschversuch 1934 an einem zu gut ausgebildeten Kaffeehauskellner. Zwischen 2017 und 2019 wurde das „Eiles“ dann wiederum sehr politisch, denn in jenen Jahren war es die inoffizielle Parteizentrale der österreichischen Grünen, die in dieser Zeit nicht im Parlament vertreten waren und sich deshalb keine „echte“ Zentrale leisten konnten. Ich möchte mit all dem nichts gegen das „Eiles“ aussagen, das ich wirklich sehr gern habe. Das soll nur zeigen, wie sehr auch und gerade die Wiener Kaffeehäuser von den Zeitläuften geformt werden.
Café Eiles
Doch auch, wenn ich das „Eiles“ mag und gerne dorthin gehe, ich habe mir ein anderes Kaffeehaus ausgesucht (übrigens trotz der sehr schlechten Zeitungsauswahl). Und immerhin, mein erwähltes Kaffeehaus erwähnt Torberg wohlwollend, wenn auch nicht in der „Tante Jolesch“, so doch im „Traktat über das Wiener Kaffeehaus“ von 1959: „Überflüssig zu sagen, daß jedes dieser Kaffeehäuser seine eigene, unverwechselbare, eifersüchtig gehütete Note und Atmosphäre hatte. Ein Stammgast des ‚Central‘ oder des ‚Herrenhof‘ hätte sich im ‚Museum‘, dem Kaffeehaus der Maler, so fremd und verlassen und ausgestoßen gefühlt wie ein Stammgast des Musikercafés ‚Parsifal‘ im Journalistencafé ‚Rebhuhn‘. Heute eignen Reste von Unverwechselbarkeit allenfalls noch dem ‚Raimund‘ und dem ‚Hawelka‘, zwei echten Kaffeehäusern, jenes zur Literatur, dieses zur bildenden Kunst tendierend.“

Jetzt ist es denn auch halb heraus, welches wohl MEIN Kaffeehaus ist. Ich habe wirklich länger darüber nachgedacht, ob ich es denn tatsächlich nennen will. Nicht etwa, weil ich hier keinen Besuch empfangen möchte, sondern weil ich mich um meinen sicheren Platz sorge. Doch weil ich den Lesern ja durchaus helfen möchte: Geht ins „Raimund“, dort ist es gut! Das „Hawelka“ habe ich natürlich auch ausprobiert – immerhin hat es Eingang gefunden in den Austropop durch Danzers „Jö schau“. GedenktafelAber man muss sich entscheiden, und wenn ich die Wahl habe zwischen Künstler und Literat, entscheide ich mich für Letztgenannten. Wiederum sei angemerkt: Seit 1959 ist viel Zeit vergangen, ein Literatencafé ist das „Raimund“ längst nicht mehr – dafür hat es nun eine Gedenktafel am Eingang, die an diese Zeiten erinnert. Und sogar zwei kleine Echos zeugen noch von jener Epoche: Ein Zirkel alter Herren trifft sich einmal im Monat hier zum intellektuellen Gespräch. Und ein rein weiblicher Buchklub gemischten Alters ebenso. Beide treffen sich dabei montags, die Herren jeden zweiten solchen im Monat, die Damen variieren, was dazu führen kann, dass beide Gruppen kollidieren. Wenn das dann geschieht, so ist der darüber entspringende Streit eher derb als intellektuell – aber auch das gehört zur Tradition der Kaffeehäuser.

Sitze ich nun hier im „Raimund“ und schreibe an meinen Zeilen, dann haucht mich eine Sentimentalität an, die ich eigentlich gar nicht spüren kann, weil ich die alten Zeiten Österreichs ja kein wenig nachvollziehen oder erinnern kann. Aber das können wahrscheinlich auch die meisten Österreicher nicht – und trotzdem leben die Kaffeehäuser auch und gerade von dieser sehnsüchtig vermissten Welt von Gestern.