ZIZERLWEIS
Vom Einsickern Österreichs in einen Münchner Geist

24. Mai 2022


Professor, Ingenieur und Hofrat


Wir haben einen Freund, der ist Lehrer. Er hat auch einen Master in Philosophie, er hat einen Magister in Biologie – aber das alles zählt im Alltag nicht, denn als Lehrer ist er hier in Österreich eh schon „Professor“. Wir haben eine Nachbarin, die ist vor allem alt, sie zählt jetzt schon 95 Jahre. Und sie hat vor etwa 70 Jahren einen Mann geheiratet, der war Ingenieur – und also ist sie Frau Ingenieur. Und solange sie noch mobil war und man sie im Stiegenhaus treffen konnte, solange wollte sie auch angesprochen werden als Frau Ingenieur – denn als Österreicher möchte man einen Titel tragen; ob es nun ein erworbener, ein geschenkter, ein geheirateter oder auch nur ein gewohnheitsweise üblicher ist. Hauptsache, der Österreicher hat einen Titel. Und fast jeder hat hier einen Titel. Die Auswahl ist aber auch groß ...

IngenieurNebenbei: Der Ingenieur in Österreich, der war damals, als unsere Nachbarin ihn durch Eheschließung erwarb, eine echte Unverschämtheit gegen jeden echten Akademiker – und er ist heute noch immer mindestens eine kleine Unverschämtheit gegen eben dieselben. Früher musste man nur eine eher technisch ausgerichtete höhere Lehranstalt besuchen, diese bestehen und dann drei Jahre in einem der Ausrichtung entsprechenden Beruf arbeiten – schon war man Ingenieur. Heute muss man das Ganze immerhin beantragen und ein Gespräch über seinen beruflichen Werdegang führen, dann erst ist man Ingenieur. Was für ein Titel! Aber als Österreicher nimmt man eben an Titeln, was zu haben ist.

Über den österreichischen Hang zu Titeln hat Ephraim Kishon eigentlich schon alles gesagt. Seine Satire „Wiener Titelwalzer“ habe ich gelesen so zirka 25 Jahre, bevor ich auch nur daran dachte hierher überzusiedeln. Und natürlich habe ich darüber gelacht, natürlich hatte sich die Titel-Liebe der Österreicher auch zu meinem damaligen Ich schon herumgesprochen, fragte man sich doch in meiner Kindheit über manch bayerischen Doktor: Hat er wirklich einen gemacht oder hat er ihn am Linzer Hauptbahnhof käuflich erworben? Aber wie bitteschön konnte ich denn ahnen, dass Kishon da ausnahmsweise kaum bis gar nicht übertrieben hat, woher sollte ich wissen, wie viel mehr als ein lustiges Klischee das alles ist, woher sollte ich denn wissen, dass sie tatsächlich so übelst titelversessen sind, meine neuen Landsleute?

Man gehe in Wien ins Cafe Sperl – und man sehe sich das Interieur genauer an. Als guter österreichischer Gastronom will man keinen seiner Gäste verletzen oder beleidigen, wenn man darauf hinweißt, das der gefladerte Mantel nicht versichert ist. Als guter österreichischer Gastronom weiß man aber auch: Sie alle tragen Titel. Komplett verschiedene Titel. Wie soll man nun aber all diesen Titeln gerecht werden? Man schreibt „Die P.T. Gäste ...“ – P.T. steht für „praemisso titulo“, zu Deutsch: Wir setzen die eh nicht verdienten Titel eh stillschweigend voraus. P.T. Gäste

Als normaler Deutscher kann man das einfach nicht glauben, man staunt und ist eher belustigt, denn entsetzt. Natürlich hat die Titelsucht einen psychologischen Grund – und natürlich ist der Grund ein nicht verwundener Verlust: Anders als die Deutschen haben die Österreicher ihre Adelstitel komplett abgeschafft: Otto von Habsburg etwa, der letzte echte Kronprinz Österreichs (echt, weil er knapp die ersten sechs Jahre seines Lebens wirklich Thronfolger war), hieß in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eben Otto von Habsburg, in Österreich aber Otto Habsburg-Lothringen. Ganz ohne „von“, also ganz ohne Adelsprädikat. In Deutschland gibt es dagegen den Adel zwar seit 1918 auch nicht mehr, aber im Namen ist er noch immer ausgewiesen – eine Inkonsequenz, die ich sehr österreichisch fände, wären da nicht dieses eine Mal ausgerechnet die Österreicher konsequenter gewesen als die Deutschen. Seit der Adelsabschaffung aber leidet das ganze Land unter Phantomschmerzen. Oder wie Kishon schreibt: „Wie der einstige Mosche Stein uns weiter belehrte, bestand seit dem Tag, in dem Österreichs barocke Feudalmonarchie sich in eine gemäßigte demokratische Republik verwandelt hatte, unter den Einwohnern des Landes eine unstillbare Sehnsucht nach den klingenden Titeln der verklungenen Zeit.“

Sie besteht noch immer, diese unstillbare Sehnsucht. Es gibt in Österreich zwar seit bald 104 Jahren keinen Hof mehr – doch die Hofräte, die sind unzählig. Das liegt allerdings auch daran, dass der Hofrat ein Titel für Beamte ist und Beamte gibt es ins Österreich wahrscheinlich sogar in absoluter Zahl genau so viele wie in Deutschland – denn in der Verwaltung sind selbst wir Deutsche Amateure gegen die Österreicher; Kafkas „Schloss“ ist im wesentlichen nur eine Gebrauchsanweisung für Österreich. Doch unzählige Hofräte gibt es vor allem auch deswegen, weil die Beamtenschaft den Hofrat als Titel unbedingt behalten wollte. Es gab den Versuch, den Hof- durch den Ministerialrat zu ersetzen – er scheiterte schon im Kaiserreich am Widerstand der bestellten Beamten. Wo kämen wir auch hin, würden die Herren Räte (damals wirklich noch Herren und keine einzige Dame) vom Hof zum Ministerium herab gesiedelt. Die Republik Österreich hat dann bezeichnenderweise nie einen ernsthaften Versuch unternommen, nach dem Hof auch den Hofrat abzuschaffen – stattdessen wird er in der Republik sogar nicht nur hohen Beamten, sondern auch sonst um die Republik verdienten Menschen verliehen; sollte dieses Blog eines Tages wirklich Erfolg haben, könnte selbst ich ein Hofrat werden.

Und was soll ich sagen, ich strebe jetzt wirklich den Hofrat an (lest also dieses Blog!), denn wenn man Österreicher werden will, dann hat man nach Höherem zu streben – und sei dieses Höhere auch nur ein völlig sinnloser, inhaltsleerer und überflüssiger Titel.