ZIZERLWEIS
Vom Einsickern Österreichs in einen Münchner Geist

06. Jänner 2024


Schöner schimpfen


Alle Jahre wieder wird Wien als die am meisten lebenswerte Stadt der Welt ausgezeichnet. Das passiert aufgrund von Befragungen sogenannter Expats, was im weitesten Sinne alle ausländischen Einwohner Wiens wären. Allerdings meint das Wort „Expats“ bei derlei Befragungen eher „gute Ausländer“; solche also, die in gehobenen Positionen arbeiten und genau deshalb von Wirtschaftsmagazinen für Wert befunden werden, bei Umfragen teilzunehmen – die polnische, die ungarische, die serbische, die rumänische Putzkraft, die wird da dann eher nicht befragt. Ebenso wiederkehrend wird Wien durch eben die gleichen Expats zur unfreundlichsten Stadt der Welt gekürt. Die am meisten lebenswerte und gleichzeitig die unfreundlichste Stadt der Welt also ist Wien – das widerspricht sich augenscheinlich. Doch für die Ohren gehört Beides zusammen.

Denn in Wien wird zwar wirklich reichlich geschimpft, womit sich die Wiener ihren Ruf als unfreundlich täglich aufs Neue redlich verdienen. Aber hier wird dabei auch schön geschimpft – und das prägt doch sehr den Charme der Stadt. Themen zum Schimpfen gehen den Wienern dabei nie aus, denn man beschimpft hier sehr demokratisch einfach alles und jeden. Mit dieser demokratischen Herangehensweise gehen leider auch einige Ungerechtigkeiten einher, denn es hat ja nun nicht jeder gleichermaßen verdient, beschimpft zu werden. Das ist aber eher ein Problem der Demokratie, denn eines der Wiener Beschimpfungen; es hat ja auch nicht jeder verdient, wählen zu dürfen, aber das Recht bekommen aus guten Gründen trotzdem alle. So gesehen wäre die Beschimpfung vielleicht sogar als Zeichen der Gleichberechtigung aller zu sehen – dass dem nicht so ist, werden wir später noch sehen.
Blunzenstricker
Grob kann man das Wiener Geschimpfe in zwei Arten einteilen: Es gibt die direkte Beschimpfung, die meist wirklich überaus direkt daherkommt, indem sie sich des reichen Wiener Schimpfwortschatzes bedient. Und es gibt die indirekte, mehr so von hinten durch die Brust ins Auge angewandte Beschimpfung, die keine Schimpfwörter braucht, sie sogar vermeidet und sich nur aus dem Wortschatz der österreichischen Hochsprache bedient.

Um das Ganze an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn man bei all den nervigen den Leuten um einen herum voller Verachtung die Existenzberechtigung in Zweifel ziehen möchte, dann kann man das in eine indirekte Beschimpfung kleiden, wie es Karl Kraus tat, ein wahrer Meister des Schimpfens: „Die meisten meiner Mitmenschen sind traurige Folgen einer unterlassenen Fruchtabtreibung.“ Kein einziges Schimpfwort – und trotzdem eine sehr zynische (und sehr treffende) Beleidigung der Mitmenschen.
Man kann aber auch den direkten Weg beschreiten und seine Mitmenschen als „aufg’zogene Nachgeburten“ bezeichnen. Das zugrunde liegende Motiv ist sehr ähnlich, die Aussage ziemlich gleich, die Technik aber könnte kaum verschiedener sein: einmal Florett, einmal Streitaxt.
Wohnung von Karl Kraus
Kraus war kein durchschnittlicher Wiener, er war eher ein Gstopfter, was man auch an der Adresse seiner Wohnung ablesen kann: Lothringer Straße 6 im feinen 1. Bezirk – erst gegen Ende seines Lebens änderte sich das, dem finanziellen Ruin entkam er schließlich nur durch vorzeitiges Ableben. Durchschnittliche Wiener aber haben für das von Kraus meisterhaft geführte Florett kaum eine Verwendung, für den Alltag ist die Axt praktischer. Karl Kraus konnte, dank Leibrente und einem Leben einzig wechselnd zwischen Kaffeehaus und Arbeitszimmer, Zeit und Muße darauf verwenden, die österreichischen Behörden gekonnt aufzuspießen: „Ich schlafe nie nachmittags. Außer, wenn ich vormittags in einem österreichischen Amt zu tun hatte.“ Aber all die anderen, die nach dem Amt nachmittags auch ihren Schlaf bräuchten, ihn aber nicht bekommen, weil sie Lohnarbeit verrichten, die müssen sich damit begnügen, die Amtspersonen als Wappler zu beschimpfen. Natürlich erst NACH dem Amtsbesuch, natürlich NICHT in Gegenwart eines amtlichen Wapplers.

Trotzdem lohnt es auch heute noch, bei Karl Kraus zu lernen, wie eine gute indirekte Beschimpfung funktioniert. Zumindest nach meiner Erfahrung sind die Wiener da auch heute noch deutlich kreativer als es die meisten Deutschen sind, sie haben halt einfach mehr und deutlich besseren Humor als meine Landsleute. Und Karl Kraus ist in Teilen bis heute aktuell, was ein wenig gegen die Gegenwart und sehr für den Herrn Kraus spricht. Noch ein hübsches Lehrbeispiel: „Männer der Wissenschaft! Man sagt ihr viele nach, aber die meisten mit Unrecht.“ Zugegeben, heute müsste man der Wissenschaft mindestens bi-, wahrscheinlich pansexuelle Neigungen unterstellen – doch das vorausgesetzt, funktioniert der Schmäh noch immer. Wie viele Männer berufen sich unberufen auf die Wissenschaft – und erweisen sich damit als Nebochant? Wie viele Frauen verteidigen die Wissenschaft, solange und nur solange sie ihre Meinung unterstützt – und offenbaren sich dadurch als Funsen? Ehrlich, ich wohne im 7. Bezirk, da gibt es fast nur Wissenschafts-Nebochanten und -Funsen! Und das Ärgste ist: Sie alle halten alle Andersmeinenden für Bluzenstricker!
gemeiner Wiener
Der Nebochant ist eine der Beschimpfungen, die mir schon häufiger zugeeignet wurden, in der Intention scherzhaft-freundlich gemeint, in der Sache durchaus zutreffend. Denn ich wurde so genannt von einem Schachfreund, der jeden Einsteller meinerseits damit kommentierte – ich spiele gerne Schach, ich spiele schlecht Schach, ich gewöhnte mich schnell daran, ein Nebochant zu sein.

Woran ich mich lange nicht gewöhnen konnte, das war die Benennung als Marmeladinger (meist neckend gedacht). So nennt man hier in Wien die Deutschen, und also auch mich. Warum? Das war mir lange nicht klar (ich weiß selbst nicht, warum ich nicht einfach deutlich früher schon im Internet nachgeschaut habe). Seit ich weiß, woher das Ganze kommt, habe ich damit kein Problem mehr, denn der Marmeladinger spießt eine Wahrheit über uns Deutsche im Kontrast zum Kleiner-Brudervolk auf: Traditionell sind wir Deutsche kulinarisch arm, viel ärmer als die Österreicher (dazu wird es bald einen eigenen Text geben, in dem es dann um Tunke und Mehlspeisen und vieles mehr gehen wird).

Hugo von Hofmansthal – ein Gstopfter wie Karl Kraus – hat das in seinem sehr treffend Vergleich von 1917 so ausgedrückt: „Preußen: von Natur armes Land – Österreich: von Natur reiches Land; Der Preuße: Streberei – Der Österreicher: Genußsucht“ Die Österreicher, die im Ersten Weltkrieg auf deutschen Kameraden trafen, haben die kulinarische Armut auch bemerkt – vor allem daran, dass die deutschen Soldaten keine Butter hatten, sie als Grundlage für die Marmelade auf das Brot zu schmieren; an der Butter nämlich sparte das deutsche Oberkommando. Sie hatten aber nicht die Muße Hofmannsthals, diese Eigenart in eine tabellarische Aufstellung der Unterschiede zwischen den Brüdervölkern zu gießen. Und also begnügte man sich damit, die deutschen Kameraden als Menschen zu verspotten, die sich keine Butter aufs Marmeladenbrot leisten konnten, als Marmeladinger eben.

Auch oft hört man als Deutscher den meistens böse gemeinten Piefke. Hier sind wir nun bei einer Eigenschaft der Österreicher und damit auch der Wiener angelangt, die gar nicht sympathisch oder charmant ist: Es gibt in Österreich eine Neigung zum Rassismus. Überall auf der Welt gibt es die natürlich. Aber in Österreich, anders als in Deutschland oder vergleichbar zivilisierten Ländern, wird sie ganz natürlich ausgelebt (das glauben die Österreicher zu dürfen, weil sie ja bekanntlich das erste und komplett unschuldige Opfer Hitlers waren, und so…). Den Piefke gestehe ich den Österreichern dabei sogar zu, weil auch er uns Deutsche sehr hübsch aufspießt (Karl Kraus machte natürlich auch das besser: „In der deutschen Bildung nimmt den ersten Platz die Bescheidwissenschaft ein.“). Außerdem betrifft mich der Anwurf nicht so recht, weil ich als gebürtiger Münchner spätestens bei Nennung meines Geburtsorts aus der Menge der Piefkes exkludiert werde.

Schlimmer und auch deutlich weniger treffend ist die Bezeichnung Tschusch für all jene Bewohner Österreichs, die das vermeintliche Pech haben, im nicht deutschsprachigen Teil des Balkans geboren worden zu sein. Dazu wird an dieser Stelle alsbald eine längere Betrachtung folgen, hier sei das nur als schlechtes Beispiel für die Fehlleitung einer grundsätzlich guten Eigenschaft erwähnt. Denn ja, es ist sehr schön, wie viel hier geschimpft wird! Es ist sehr schön, wie gemein hier geschimpft wird! Und es ist wahrscheinlich auch sehr gesund: Obwohl die Österreicher – und damit auch die Wiener – traditionell deutlich mehr Mehlspeisen, deutlich mehr Butter essen, obwohl die Österreicher mehr saufen (und dann zu Fetznschädeln degenerieren), sterben sie seltener an Herzkrankheiten. Man könnte fast meinen, das schöne Schimpfen diene der Herzensbildung.


Ein kleiner Index der im Text nicht erklärten österreichisch-wienerischen Schimpfwörter:

Gstopfter:
Meint einfach einen wohlhabenden (mindestens deutlich wohlhabender als der Sprecher) Zeitgenossen.

Wappler:
Ein unfähiger Mensch, fast ausschließlich ein männlicher solcher, sehr häufig ein solcher Kollege.

Nebochant:
Hier ist die Herkunft unklar: Es könnte aus dem Rotwelschen, der Gaunersprache, abstammen. Mir selbst erscheint folgende Ableitung plausibler: Abwandlung von Nebbich, was die gleiche Bedeutung hat, und von nebech, für jidisch „das arme Ding“, herrührt.

Funsen:
Meist eine Frau, aber ich habe es auch schon über Männer gehört. Kommt von der Funzel, was das arg schwach leuchtende Licht ist. Ist also gleichbedeutend, aber viel direkter als: Nicht die hellste Kerze auf der Torte.

Bluzenstricker:
Ein Mensch, der zu nichts fähig ist. Außer eben die Blunzn (Blutwurst) zu drehen (also die Würste aus dem mit Wurstteig gefüllten Darm durch Eindrehen zu portionieren).

Piefke:
Hier zitiere ich einfach mal Wikipedia: „Seine Funktion als Symbol für den typischen korrekten Preußen dürfte der Name aber vor allem seit der Niederlage des Deutschen Bundes mit Österreich gegen Preußen im Deutschen Krieg 1866 innehaben. Das verdankt er wohl nicht zuletzt dem bekannten preußischen Militärmusiker Johann Gottfried Piefke, der den Königgrätzer Marsch zur Feier des preußischen Sieges in der Entscheidungsschlacht komponierte und der auch bei der Siegesparade anwesend war und dirigierte.“

Fetznschädel:
Der vom Alkohol vernebelte Mensch.